Sechs Thesen des Club Helvétique zum Rechtsstaat
1. Bundesverfassung als Fundament
Die Bundesverfassung ist seit Entstehen der modernen Eidgenossenschaft das demokratisch begründete und einigende Band der Schweiz. Sie trägt zur Stabilität bei und gibt Orientierung. Relativierungen der Verfassung sind Angriffe auf die Schweiz.
2. Starkes Recht statt starker Männer
Die Grundidee der Aufklärung und unserer Verfassungsväter war und bleibt: „government by law, not by man“. Wir brauchen starkes Recht statt des Rechts des Stärkeren.
3. Das Volk darf nicht alles
Weder Nationalstaaten noch Völker dürfen sich alles erlauben. Der demokratische Staat ist souverän, aber nicht absolutistisch: Es gibt keine absolute Souveränität. Hingegen gibt es unverbrüchliche Freiheiten und unverbrüchliches Recht. Menschenrechte, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz sind unantastbar. Für alles staatliche Handeln – also auch für Entscheide des Volks – gilt Artikel 5 der Bundesverfassung: Grundlage und Schranke ist das Recht, einschliesslich des Völkerrechts. Unser Land muss sein Rechtsbewusstsein schärfen, damit aus dem Rechtsstaat kein Unrechtsstaat wird.
4. Wider die Willkür
Immer mehr Volksinitiativen laufen dem Geist und den Grundlagen der Verfassung zuwider. Ausgehöhlt werden der gerichtliche Schutz von Grund- und Freiheitsrechten jeder Person durch die Justiz, das Diskriminierungsverbot und die Garantie fairer Rechtsverfahren. Volksinitiativen, die Freiheiten und Rechte von Bevölkerungsgruppen oder einzelnen Menschen missachten, öffnen der Willkür Tür und Tor.
5. Schluss mit Volksinitiativen gegen die Grundrechte!
Die Initiative zum Verbot von Minaretten verweigert muslimischen Bürgerinnen und Bürgern die volle Religionsfreiheit. Die Einbürgerungsinitiative verweigert Einbürgerungswilligen faire Verfahren und Rechtsschutz bei Diskriminierungen. Die Ausschaffungsinitiative missachtet die von Volk und Ständen in der Verfassung festgeschriebene Pflicht, sich an das zwingende Völkerrecht zu halten; sie ermöglicht schrankenlose Ausweisungen. Die Initiative zur Einschränkung des Verbandsbeschwerderechts erschwert massiv die Anwendung der Gesetze zum Schutz der Umwelt, teilweise liessen sie sich nicht länger durchsetzen. Unhaltbar ist, dass Gemeinden und Kantone per Volksentscheid beschliessen dürfen, das von Volk und Parlament demokratisch gesetzte Bundesrecht zu verletzen. Diese Initiativen sind unhaltbar.
6. Für eine Verfassungsgerichtsbarkeit
Keine andere Demokratie unseres Kulturraums bietet so wenig Schutz elementarer Grund- und Menschenrechte.
– Es wird mangelhaft kontrolliert, ob Volksinitiativen und Entwürfe von Bundesgesetzen der Verfassung entsprechen: Parlament, Regierung und Verwaltung taugen nicht als Wächter der Grundrechte, ihnen fehlt die Unabhängigkeit. Vorlagen sollten durch das höchste Gericht oder wenigstens durch unabhängige, mit hoher Autorität ausgestattete Gremien geprüft werden.
– Laut Artikel 190 der Bundesverfassung müssen Richter auch verfassungswidrige Bestimmungen eines Bundesgesetzes anwenden: Das Bundesgericht kann die Bürgerinnen und Bürger nicht vor einer Verletzung ihrer verfassungsmässigen Rechte schützen. Eine
solche Regelung ist in der westlichen Welt einmalig, sie mindert die Glaubwürdigkeit unseres demokratischen Rechtsstaats. Artikel 190 muss geändert werden.
Basel, Dezember 2007
Zehn Thesen des Club Helvétique zu einer zukunftsfähigen Konkordanz
A. Grundlagen und Wirkungen der Konkordanz im Sonderfall Schweiz
1. Konkordanz gehört zum historisch gewachsenen, republikanischen Selbstverständnis der Schweiz. Konkordanz ist eine Kompetenz, die das Schweizer Volk nach und nach erworben hat: eine Errungenschaft, die den Zusammenhalt und die Entwicklung der Eidgenossenschaft fördert.
2. Konkordanz prägt unsere politische Kultur: Konflikte werden auf «Biegen» statt auf «Brechen» ausgetragen, weil der Gegner als legitimer Vertreter von Argumenten und Interessen gilt. Konkordanz setzt daher auf Verhandlungsprozesse, die eine gute Kenntnis aller Positionen erfordern und fördern.
3. Die Kultur der Konkordanz hat politische Institutionen hervorgebracht, in denen Interessen und Argumente verhandelt und gebündelt werden. In den Regierungen des Bunds, der Kantone und Gemeinden gilt das Kollegialitätsprinzip. Im Parlament arbeiten die verschiedenen Kräfte zusammen. Vor- oder ausserparlamentarische Verfahren wie die Vernehmlassung ermöglichen es allen Interessengruppen, ihre Anliegen einzubringen. Die politischen Institutionen, die von der Konkordanz leben und ihr zugleich einen Rahmen geben, haben sich bewährt.
4. Kerngedanke der Aufklärung ist das Ringen um die besseren Argumente: um die Vernunft. Die Konkordanzdemokratie kommt diesem Gedanken näher als eine reine Wettbewerbsdemokratie, in der Regierung und Opposition unablässig ums bessere Image wetteifern. Konkordanz weckt die Lernbereitschaft und ermöglicht nüchterne Entscheide. Konkurrenz pur verstärkt den Hang zu emotionsgeladener Symbolpolitik.
5. Konkordanz fördert Berechenbarkeit und Verbindlichkeit der Entscheidungsträger und den sozialen Frieden. Das sind Voraussetzungen des wirtschaftlichen Erfolgs. Die Konkordanz ist einer der wesentlichen Standortvorteile.
B. Gefährdete Konkordanz – gefährdeter Sonderfall
6. Endet die Konkordanz, zahlt die Schweiz einen hohen Preis. In einer Wettbewerbsdemokratie wäre die Debatte emotionaler und inhaltsarm.
7. Die Schweizer Volkswirtschaft verdankt ihre Wettbewerbskraft auch der Kultur der Konkordanz. Entfällt dieser Standortvorteil, werden Unternehmer durch die weniger berechenbare Politik und wechselhafte Rahmenbedingungen verunsichert.
8. Die Kultur der Konkordanz ist gefährdet: einerseits durch Medien, die das Politische vollends personalisieren und den Konflikten mehr Aufmerksamkeit schenken als der Suche nach Kompromissen; andererseits durch Politikerinnen und Politiker, die sich und ihre Botschaften solchen Vermarktungsbedingungen anpassen.
9. Diejenige Partei, die sich auf die Schweizer Tradition beruft, wendet sich von der Tradition der Konkordanz ab. Die SVP zieht ideologisch „reine“ Lösungen vor. Hier vermengen sich radikale Staatsfeindlichkeit und ein radikaler Populismus, der die massenmediale Nachfrage nach Personalisierung und Konflikten ausreizt.
10. Reine Wettbewerbsdemokratie belohnt nicht das Augenmass, sondern die Unerbittlichkeit im medienwirksamen Streit zwischen Personen. Solche Reduktion des Politischen erschwert vernünftige Entscheide und bedroht den sozialen Frieden.
Die Schweiz steht vor neuen schweren Auseinandersetzungen um die Konkordanz, nicht zuletzt anlässlich der nächsten Bundesratswahlen. Der Club Helvétique setzt sich für die Konkordanz ein.
Club Helvétique, Biel, November 2006